Das System wird kollabieren

„Vor drei Jahren“, schreibt Mely Kiyak in ihrer Samstagskolumne, „hatte ich eine Hirnhautentzündung und lag zwei Wochen im Krankenhaus. In der ersten Nacht übergab ich mich in mein Bett. Als ich nach drei Tagen wieder sprechen konnte, machte ich die Schwestern darauf aufmerksam. Man warf mir frische Wäsche aufs Bett und ermunterte mich: ‚Sie hams doch am Kopp und nicht an de Arme!'“ Ja, im Gesundheitssystem kracht und hakt es an allen Ecken und Enden. Aktuell sorgt ein neuer Strukturausgleich für böses Blut bei den Ärzten, der eigentlich für gerechtere Umverteilung sorgen sollte. Hier schildert der Dermatologe Dr. Wolf Brinkmann aus Herborn seine Situation:

„Mit großem Interesse habe ich die Kolumne von Mely Kiyak gelesen, und ich kann manches nachvollziehen. Als niedergelassener Hautarzt will ich Ihrer Leserschaft aber auch einmal die Entwicklung in einer hessischen fachärztlichen Kassenarztpraxis darlegen.
Im Rahmen der x-ten Gesundheitsreform sind so genannte Regelleistungsvolumen für niedergelassene Ärzte eingeführt worden. Ärzte erhalten einen festen Betrag pro Krankenschein für ihre Arbeit und nicht mehr Punkte mit unsicherer finanzieller Vergütung. Das von der KV Hessen für niedergelassene Dermatologen festgesetzte Honorar betrug für das erste Quartal 2009 20,02 Euro und ist für das zweite auf 14,92 Euro gesenkt worden. Bitte berücksichtigen Sie dabei, dass dies der „Lohn“ für die Arbeit eines ganzen Quartals an einem Patienten ist, mit Ausnahme sog. großer OPs, die finanziell aber praktisch keine Rolle spielen. Wir versorgen also für 14,92 Euro Flatrate vor Unkosten und Steuern einen Patienten über ein ganzes Quartal, und das in Hessen, Deutschland, und nicht etwa in einem Entwicklungsland.
Stellen Sie sich einen gehunfähigen chronisch Hautkranken vor, den Sie mehrfach pro Quartal besuchen müssen, oder einen alten Patienten mit offenen Beinen, der drei- bis viermal pro Woche die Praxis aufsucht, alles für 14,92 Euro. Weitere Beispiele ließen sich beliebig anfügen. Diese Zustände sind absolut unfassbar und unwürdig, zumal von der Politik verbreitet wird, dass Milliarden in den niedergelassenen Bereich geflossen seien.“

Günter Bihn aus Frankfurt:

„Frau Ulla Schmidt und Herr Seehofer sind völlig weltfremd. Wenn man den Medien glauben darf, bekommt man im Landkreis Limburg-Weilburg keinen Augenarzttermin mehr, nur noch für Notfälle sind die Ärzte da. Woanders sieht es nicht besser aus, auf eine MRT warten Kassenpatienten in Berlin zwischen vier und sechs Wochen. Sollten Sie mal Rückenprobleme haben, gehen Sie erst gar nicht zum Orthopäden, sieben Tage Wartezeit, selbst wenn Sie akute Schmerzen haben. Das System ist kurz davor zu kollabieren. Wenn die Politik nicht dringend handelt, haben wir binnen eines Jahres italienische Verhältnisse. Man muss die Ärzte bar bezahlen, ansonsten ist es wie zu Beginn der Industrialisierung, Zähne (sofern noch vorhanden) zusammenbeißen, Schmerzmittel bevorraten, gesund leben, täglich beten und hoffen, dass keine Epidemie kommt. Marsch zurück in die Zeiten der Kurpfuscher und Gesundbeter, denn ansonsten hilft einem keiner mehr.“

Gleichzeitig machen die Krankenkassen ein dickes Plus. Dazu Horst Schleiffer aus Sulzbach:

„Der fette Überschuss der Krankenkassen wird außer durch Beitragserhöhungen auch durch Leistungskürzungen erreicht.
Bis 2006 vergütete unsere Krankenkasse bei Kuren im Ausland ohne vorherige Genehmigungen die Anwendungen, und zwar entweder die tatsächlichen Kosten, wenn sie unter dem hiesigen Höchstsatz lagen, oder die hiesigen Höchstsätze. Ab 2007 ersatzlos gestrichen. Immer wieder wird seitens der Kassen auf die persönliche Mithilfe zur Gesunderhaltung für Kurse in Gymnastik, Turnen und sonstige körperliche Betätigungen hingewiesen. Meine Frau besucht seit Jahrzehnten Kurse in der VHS für Rückengymnastik. Bis vor einigen Jahren wurden diese Kurse voll vergütet. Ab 2005 wurden nur noch zwei Kurse gleicher Art (innerhalb eines Jahres) bezahlt. In 2006 und 2007 wurden, Anzahl der Kurse egal, 200 Euro insgesamt vergütet. Ab 2008 werden nur noch 80 Euro ersetzt.
Gleichzeitig werden größere Summen in den Krankenkassen-Struktur-Ausgleich überwiesen.“

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8 Kommentare zu “Das System wird kollabieren

  1. Unzufriedenheit, Anspannung und Ärger beginnen bereits bei der ewig langen Rumsitzerei im vollgestopften Warteraum.
    Nach über 2 Std. landet der erschöpfte und entnervte Patient endlich im ärztlichen Behandlungszimmer – und begegnet dort nach einer weiteren Viertelstunde des Wartens einem abgehetzten, fahrigen und gleichfalls erschöpften und entnervten Arzt.
    Der schaut sein Gegenüber kaum an, dafür aber umso öfter auf die Uhr. Zudem telefoniert er zwischendurch 3x mit anderen Patienten und starrt dabei abwechselnd in den PC sowie in diverse Krankenakten auf seinem Schreibtisch. 2x stürmt die Arzthelferin herein und haut ihm weitere Papierstapel und Mitteilungen vor und um die Nase.
    Zu einem „vertrauensvollen“ Gespräch oder gar einem Dialog kommt es also nicht. Und für eine eingehende Untersuchung ist: „… beileibe keine Zeit! Sie sehen ja, was hier los ist!“
    Nach 10 Minuten (minus mindestens 3x 2 Min. für Telefonate und andere Unterbrechungen) steht der mittlerweile völlig konfuse, irritierte und verwirrte Patient wieder vor der Tür. Die Hälfte seiner Fragen und Anliegen hat er erst gar nicht vor- und unterbringen können bzw. im bahnhofsähnlichen Tumult schlichtweg vergessen. In seinen zittrigen Händen hält er nun ein Rezept „Nein, diese Medikamente bezahlt Ihre Kasse nicht“.
    Gestresst und bedrückt schleicht er aus der Praxis. Er fühlt sich im doppelten Wortsinn und auf allen Ebenen „beschissen“. Und er hat zusätzlich zu seiner schmerzhaften Symptomatik nun auch noch ein schlechtes Gewissen. Den Arztbesuch – besser gesagt „ArztVERsuch“ – hätte er im Sinne und zum Wohle aller Seiten offensichtlich besser unterlassen sollen…

  2. Das ist eben die Kehrseite der Medaille genannt Gesundheitsreform. Wer was anderes erwartet hat, sieht sich getäuscht. Inzwischen sagen sogar die Ärzte und ?SU, dass die schlecht ist, dabei waren sie bzw ihre Vertreter führend an dem Gesetzgebungsverfahren beteiligt, wenn auch Seehofer als einsamer Rufer gegen diese Gesetzgebung anlief. Nebenbei wurde auch noch das wenige, was in der Gesetzlichen Krankenversicherung noch an Demokratischer Kontrolle übrig geblieben war auf ein Minimum reduziert, so dass mensch sagen kann, demokratische Kontrolle durch die Beitragszahler wurde so gut wie beseitigt. Was brauchen wir auch demokratische Kontrolle im Gesundheitswesen, nicht wahr? Der Gemeinsame Bundesausschuss – wer ist über dessen Befugnisse wirklich informiert? – setzt sich nämlich mehrheitlich aus Hauptamtlichen, die vom Bundesgesundheitsministerium berufen werden, Vertretern der Vertragsärzteschaft, der vertragszahnärzteschaft, der gesetzlichen Krankenkassen und der Krankenhäuser zusammen. Der Patient ist dabei zum Marktteilnehmer ohne echter Mitsprache verkommen. Dass Patientenvertreter an den Sitzungen des Gemeinsamen Bundesausschusses teilnehmen dürfen, ist keine Mitbestimmung, weil sie kein Stimmrecht haben. Hie haben also die Regierigen unter Merkel den Wählern eindeutig gezeigt, dass es ihnen bei der Gesundheitsreform nicht um mehr Demokratie ging sondern um die Sicherung von Pfründen. Mit diesen Einschränkungen im Gesundheitswesen verbunden ist die Erhöhung der Beiträge der gesetzlichen Krankenversicherung auf 15,5 % und die Einrichtung des Gesundheitsfonds, der dazu dienen soll, die von Merkel und Westerwelle propagierte Kopfpauschale einzuführen.

  3. Neben all den Äußerungen der sogenannten oder auch tatsächlichen Experten wie Politiker, Kassenfürsten, KV-Vorsitzenden, Patienten-Vertretern und Journalisten jedweder Couleur lassen Sie mich einige (beweisbare und belegbare!) Zahlen nennen: unsere Vergütung für Kassenleistungen im 2. Quartal 2007 betrug 630464 €, im 2. Quartal 2008 betrug es 541772 €. Für das 2. Quartal 2009 hat die KV uns ein Honorar in Höhe von 349882 € in Aussicht gestellt, allerdings nur für mindestens die gleichen Leistungen wie im Vorjahr, sonst gibt es weniger. Ein Minus von 35 Prozent. Falls es nicht allen klar ist, vom Honorar muss alles bezahlt werden: Geräte, Miete, Personal etc. Noch Fragen??

  4. Dr. Rübesam,

    sind in den von der KV in Aussicht gestellten Zahlungen für das 2. Quartal 2009 auch die Leistungen enthalten, die zusätzlich zu der Patientenpauschale abgerechnet werden? Und wie ist der Vergleich der erfolgten Zahlungen im 1. Quartal?

    Letzte Frage: Wie erklären Sie sich Ihren Einnahmenrückgang in 2008 (gegenüber 2007), wenn laut Statistik die Kassenausgaben für Arzthonorare 2008 um 1,7 Mrd. Euro höher waren als in 2007?

  5. In den letzten 3 Jahrzehnten änderte sich in unserer Gesellschaft im Zeitraffer mehr als in hundert Jahren zuvor. Nicht immer zum Positiven, doch im Zuge der sog. Globalisierung wurde uns Bürgern alles, aber auch alles, als erstrebenswerte Innovation verkauft.

    Aus der medizinischen Versorgung mit primär ethischer Grundlage ist ein wirtschaftlicher Markt entstanden, auf dem viel Geld verteilt wird. Auch die bislang geltenden Verteilungsmaßstäbe sind überholt. Überholt in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Die private Krankenversicherung (PKV) erkannte dies schon zu Ursprungszeiten. Ärztliche Leistung wurde definiert, erbracht und dann in Geld bewertet. Die PKV kann ihren Versicherten nicht sagen, dass nur eine begrenzte Menge Salär zur Verfügung steht, dass sich Leistungserbringer teilen sollen. Das wäre so, als wenn die Mittel für die Reparatur von Unfallschäden am Auto budgetiert würden und entweder ein Teil der Schäden nicht bezahlt oder statt der erforderlichen auszuwechselnden 2 Kotflügel nur Einer ausgetauscht würde. Ergo: Die Summe der Schäden in Euro ist nicht gebunden an das erstmal zu verfügende Kapital, sondern an den Aufwand der Leistungserbringer. Ist die Summe zu niedrig, dann wird das Kapital durch Prämienerhöhungen angepasst. Auf der anderen Seite werden Rabatte eingeräumt für das Nichtabrufen von Versicherungsleistungen.
    Das Prinzip kann und sollte auf die GKV übertragen werden. Adäquat zur PKV.

    Auch Ärzte arbeiten also in der freien Marktwirtschaft, werden allerdings nicht in deren Sinne honoriert. Der Arzt bietet eine definierte Leistung an, deren Bewertung in Euro von der PKV übernommen wird. Da erstmal das Preis-Leistungsverhältnis identisch ist, kann der Arzt möglicherweise auf billigere Angebote wechseln. Der Patient kann dann laut Aushang entscheiden, ob er allein aufgrund eines geringeren Preises sich für die eine oder andere Praxis entscheidet. Nichts anderes tut der Kunde in allen anderen Bereichen. Er entscheidet entweder ausschließlich nach Preis oder lässt andere Komponenten in seine Entscheidung einfließen. Die Brötchen sind zwar gewichtsmäßig identisch, doch das teurere schmeckt besser, warum auch immer. Die Arztleistung ist zwar identisch, doch das Ambiente, die Empathie der Praxismitarbeiter etc. sagt ihm eher zu, dann entscheidet der Patient sich nicht für die billigere Variante.

    Natürlich gibt es auch in der ärztlichen Behandlung Qualitätsunterschiede, doch die wird der Patient schnell erkennen. Gesprächsintervention und Behandlungsverlauf führen nicht zum gewünschten Erfolg. Das Erkennen allerdings basiert nicht auf der Grundlage, ob ein Arzt viele Fortbildungen besucht hat, kognitives Wissen speichern kann und sich Zertifikate im Überfluss an die Wand nagelt, sondern in der Fähigkeit des Arztes grundsätzlich sein Wissen im Sinne des Patienten umzusetzen. Den Rahmen der Umsetzung liefert eine positive Bewertung der Arzt-Patient-Beziehung durch beide Seiten. Fachliche Qualität des Arztes kann der Patient möglicherweise im nachhinein erkennen, falls sich der Behandlungserfolg einstellt. Nicht durch Zertifikate.

    Dass der Bio-Apfel ein Bio-Apfel ist, muss der Kunde erstmal glauben, ob er ihm schmeckt, kann er beurteilen, wenn er ihn isst. Auch Bio-Äpfel sind unterschiedlich teuer, der Kunde kauft da, wo er sich am wohlsten fühlt, die Bedienung ihm sympathisch gegenübertritt und und und.
    Hinsichtlich der freien Arztwahl in der BRD braucht’s keine Gängelung, gleich welcher Art, der Ärzte: Der Markt wird’s schon richten. Wo liegt also das Problem?

    Zum Ende merke ich noch an, wozu brauchen wir 200 Krankenkassen bei gleichen Beiträgen? Verwaltungskosten, die auch der Versicherungsnehmer bezahlt, wofür? Da denken die politisch Verantwortlichen auch nicht zu Ende.

  6. Glücklich ist, wer nicht krank ist.
    List man all diese Kommentare und Erlebnisse, dann kommt mir nur ein Gedanke: Das größte Glück der Welt ist Gesundheit. Wehe dem, der unter unserer Gesundheitsministerin krank wird. Der hat nichts mehr zu lachen. Die Ärzte müssen wohl oder übel das beste daraus machen.
    Der Patient aber ebenso. Es gibt dabei nur Verlierer.
    Dafür schicken wir Geld in alle Welt für Panzer und Raketen, für Bomber und Soldaten, für Aufklärer und Spione.
    klar, ist auch wichtiger als die eigene Bevölkerung. Ulla , gib auf, du kannst es nicht.

  7. Sie kommen aus dem Schlamassel nicht mehr heraus. Da haben sie recht.
    Zitat: Das System wird kollabieren.
    Nicht nur das System, auch die Regierung wird bald kollabieren. Sie wird den Problemen nicht mehr herr. Es fehlen die Köpfe mit Verstand.
    Nur noch eine Frage der Zeit, wann sie uns alle in den Ruin treiben. Es fehlen Könner, wir haben Jobber dort, die nichts mehr im Griff haben, außer die Internetkontrolle.
    Kein Wunder- von der Schulbank in den Bundestag. Diese Bande, nichts gesehen nichts gehört , nichts erkannt. Aber große Klappe, alles merken sie Jahre zu spät. Sie kommen aus dem Schlamassel nicht mehr heraus, weil sie letztendlich nichts begriffen haben.
    Sie haben die Ursachen der momentanen Missere ob Gesundheit-Finanzen oder wirtschaft nicht begriffen. Sie machen weiter auf ihrem Tripp durch die Ideologie des Neoliberalismus unter ideologischer Beratung von Sinn und Co.
    Damit landen wir überall, nur nicht im rettenden Boot. Gesundheit ist kein Produktionsbetrieb, hier werden Kranke geheilt und nicht Gesundheit produziert.
    Das ist ein kleiner Unterschied. Niemand kann einen Verlauf vorhersagen. Was da fabiziert worden ist , ist absurd.

  8. Es wird also doch noch wahr, dass jemand, der sich im Krankenhaus wg eines entzündeten Appendix operieren lassen will, gefragt wird, ob er denn einen Knopf annähen kann. Kann er das, darf er sich zukünftig auch selbst operieren. Kann er das nicht, wird er abgewiesen.

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