Eine Herausforderung, sich einzumischen

Es war einmal ein Kind des deutschen Wirtschaftswunders, das sich Mitte der 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts von seinem Gebrauchtwagenhändler auf Pump einen Ford Granada hatte aufschwatzen lassen. Diese Granadas waren so etwas wie Straßenkreuzer für die Mittelschicht: groß, breit, wuchtig. Nun hatte dieses Kind des deutschen Wirtschaftswunders — bei dem es sich, das sei am Rande bemerkt, um meinen Erzeuger handelt — einen Vater, und der sah das Auto und sagte: „Besser wird’s nicht mehr.“ Das war nicht ganz die Reaktion, die sich mein Vater wohl erhofft hatte, aber so war mein Großvater eben: knapp, forsch, zuweilen verletzend.

Mein Großvater behielt Recht. Jedenfalls überwiegend. Es mag noch das eine oder andere hinzugekommen sein an materiellem Wohlstand, und es hat zweifellos auch qualitative Veränderungen des Lebensstils von uns Menschen gegeben, wie sie durch Internet und Smartphones bewirkt wurden und werden, aber: Besser wurde es nicht mehr. Es — das Leben, die Zustände, die Welt, die Chancen. Jedenfalls nicht für die Masse. Die hatte in den 80er Jahren in ihrem Konformismus alles erreicht, was als erstrebenswert galt.

Für bestimmte Gruppen allerdings ging es in den 80er Jahren erst richtig los. Mich persönlich betraf der Paragraph 175. Er hieß zwar seit 1973 „Homosexuelle Handlungen“ und nicht mehr „Unzucht zwischen Männern“, aber der deutsche Gesetzgeber hielt es immer noch für nötig, gleichgeschlechtlich Liebende anders zu behandeln als Heterosexuelle. Zwar hatte die Gesetzesnovelle von 1973 den Nazi-Jargon abgestreift, aber es war im 175er, dort im Strafgesetzbuch, immer noch von „Tätern“ die Rede. Es gab also etwas zu tun, nicht nur in dieser Hinsicht. Heute sind die Ungleichheiten weitgehend beseitigt, und die Erkenntnis ist tief ins Bewusstsein der Gesellschaft eingesickert, das andere Lebensweisen und -entwürfe gefahrlos akzeptiert werden können. Die völlige Gleichstellung wird erreicht sein, wenn das juristische Konstrukt der „eingetragenen Lebenspartnerschaft“ endlich der Ehe weicht und wenn gleichgeschlechtliche Paare Kinder adoptieren dürfen. Ich glaube, dass wir das noch erleben werden.

Mein eigener Beitrag zu dieser Entwicklung ist gering. Ich habe als junger Schwuler am Christopher Street Day demonstriert, mich ein Weilchen als Chronist der Freiburger Schwulenszene betätigt, was sich in ein paar Romanen niederschlug, von denen sogar welche veröffentlicht wurden, und darüber hinaus habe ich vor allem eines nicht getan: mich verstellt. Das war allerdings nicht immer einfach. Es wurde immer dann schwierig, wenn ich aus dem liberalen Freiburg in mein verschnarchtes Heimatdorf in Ostholstein zu meinen Eltern fuhr. Aber inzwischen hat sich auch dort einiges verändert.

Der Nationalismus ist nicht überwunden

Decker TraumMeine Biografie ist also anders als die von Markus Decker, der in seinem lesenswerten Essay „Aus der Traum“ im FR-Magazin vom 21. Januar resümiert: „All jene, die nach 1945 in Frieden und Wohlstand aufgewachsen sind, ohne dafür kämpfen zu müssen, stehen nun vor einer existenziellen politischen Herausforderung.“ Der Glaube, dass der Nationalismus überwunden sei, entpuppt sich als Illusion. Die „beispiellose Aufbau- und Friedensleistung“ der EWG, EG und EU, „entstanden aus dem Schrecken über die Vergangenheit“, steht infrage. „Heute denke ich: Was mir bis vor zwei Jahren als Normalität erschien, war die Anomalie schlechthin, in Deutschland wie in der ganzen westlichen Welt. Wir treten nicht aus der Geschichte heraus. Sondern wir treten erst wieder in jene Geschichte ein, aus der wir uns ein halbes Jahrhundert lang – scheinbar fröhlich Urlaub machend – verabschiedet hatten. Das hat Folgen für mein Lebensgefühl.“

Ich glaube, diese Folgen spüren wir alle. Manche freuen sich darüber, dass wir zusammenzucken. Wir — gemeint sind alle Menschen, welche die Freiheit, die Liberalität dieses Landes und der EU genießen. Es kann sein, dass wir diese Freiheit, diese Liberalität werden verteidigen müssen, so wie es zum Beispiel kürzlich in Koblenz der Fall war, wo dem Treffen der rechten EU-Parlamentsfraktion „Europa der Nationen und der Freiheit“ (ENF) eine Gegendemonstration antwortete — mit den Worten der rheinland-pfälzischen Ministerpräsidentin und Rednerin Malu Dreyer –: „Wehret den Anfängen, aber wir sind eigentlich mittendrin“. Rund 900 Nationalisten und Populisten im Saal, draußen etwa 5000 VertreterInnen der liberalen Zivilgesellschaft. Da ist noch Luft nach oben.

„Besser wird’s nicht mehr“, sagte damals mein Großvater. Für mich wurde es durchaus noch besser. Und nun? Nun gilt es, die Freiheit zu verteidigen, die wir in Deutschland genießen (dürfen). Voraussetzung dafür ist, dass wir verstehen müssen, warum diese Freiheit angegriffen wird, und dass wir versuchen müssen, die Gründe für den Angriff zu beseitigen — oder aber mit Nachdruck zu erklären, dass diese Gründe vielleicht nur vorgeschoben sind zum Zwecke politischer Manipulation. Aber wir müssen auch den Höckes, Gaulands, Meuthens und Petrys entgegentreten, möglicherweise sogar persönlich, zum Beispiel auf Demonstrationen: Nie wieder Faschismus in Deutschland!

fr-balkenLeserbriefe

Jürgen Malyssek aus Wiesbaden meint zum Essay „Aus der Traum“ von Markus Decker:

„Markus Deckers Essay hat mich sehr angesprochen, weil er wieder rechtzeitig daran erinnert, dass der Frieden und Wohlstand nach 1945 uns geradezu herausfordern muss, die Politik nicht mehr nur als eine Frage der Politiker zu begreifen, sondern als eine Frage, sein eigenes Leben existenziell politisch zu erkennen und sich einzumischen.
Aber auch, weil er die familiären Lebensweisen und Prägungen der Nachkriegszeit mit der Zeitgeschichte verknüpft. Mit dem Blick auf das, was heute wie eine dunkle Wolke am Himmel auftaucht. Es ist eine Aufforderung oder Ermunterung, Biografisches und gesellschaftliche Reflexion zusammenzubringen und damit zu ermöglichen, besser zu verstehen, warum es heute so aussieht, was wir beklagenswert und empörend empfinden.
„Wir treten nicht aus der Geschichte heraus, sondern wir treten erst wieder in jene Geschichte ein, in der wir uns ein halbes Jahrhundert lang – scheinbar fröhlich Urlaub machend – verabschiedet hatten.“ Ein starker Satz!
Markus Decker, der eine gute Generation jünger ist als ich (habe noch die von Armut geprägte Kindheit nach 1945 erlebt), hat die richtigen Worte gefunden aus dem Damals und für das Heute.
Aus der Geschichte gelernt? Immer deutlicher zeigt sich – auch bei seinen Zeitbeobachtungen – am Beispiel des urbanen und örtlichen Verfalls der Innenstädte oder Ortschaften und des allmählichen Aufbegehrens der Menschen gegen alles, was ihr Leben (fast gewaltsam) durch die Macht der Kapital-Mogule) im Eigentlichen zerstört hat. Eigentlich – könnte man behaupten – passen die nahezu traurigen und pessimistischen Töne von Decker eher zu meiner Generation, aber jetzt erkenne ich mich ein Stück wieder, bei dem, was ein 51-jähriger Journalist ausspricht.
Das gute Leben ist jedenfalls mit einer auf Ungerechtigkeit gebauten Gesellschaft, wie die heutige, auf absehbare Zeit, nicht denkbar. Es sei denn, man zieht sich in sein Schneckenhaus zurück mit Unterbrechungen „scheinbar fröhlicher Urlaube“.“

Volker Sixt aus Kassel:

„Der Essay beschreibt sehr treffend auch mein Lebensgefühl, welches ich nur diffus in Gedanken fassen konnten. Vielen Dank für die erhellende Analyse!“

Roland Walter aus Rastatt:

„Ein treffend geschriebenes Essay. Ob es so pessimistisch enden wird, ist spekulativ. Ich halte es da eher mit Ton, Steine.Schreben: „Der Traum ist aus! Aber ich werde alles geben, dass er Wirklichkeit wird!“

Andreas Knecht aus Eisenberg

„Markus Decker schreibt als mein Altersgenosse sehr persönlich einen Essay, also „eine geistreiche Abhandlung“ zu der Zeit „unseres“ Aufwachsens mit dem Blick auf die politische und zeitgeistige Lage bis heute und kommt dabei trotz der seiner Vita nach korrekten Selbstzuschreibung als linksliberaler Intellektueller zu gänzlich anderen Schlussfolgerungen als ich. Es mag engstirnig sein, aber alleine den unsäglichen Sloterdijk wohlwollend zu zitieren, das spricht schon Bände über diesen Autor, der mir bisher vor allem als einseitiger Linke-Basher und Özdemir-Lobhudler unangenehm auffiel. Um mich kurz zu fassen: Was nach 1989 und mit Beginn der Ära Fischer/ Schröder passierte, ist wohl vorbeigerauscht. Das im kontextuell im Dialog mit Grünen angelegte sorgenvolle Raunen um einen womöglich kommenden Krieg in Europa wäre fast schon wieder lustig, wenn es nicht so brutal wäre: Hallo aufgewacht, ein Krieg fand schon statt, nämlich in Jugoslawien. Aber das muss ein von Schwarz-Grün – leider realistisch – Träumender ja ausklammern, störte ja dann doch irgendwie den Gedankengang. So kann man weder das Phänomen Trump noch AFD verstehen´. Uns ging es ja noch nie so gut …“

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44 Kommentare zu “Eine Herausforderung, sich einzumischen

  1. Eigentlich schade, dass zum Thema keine Resonanzen kommen, da auch Bronskis einleitende biografischen und zeitgeschichtlichen Gedanken eine Menge Anregungen bieten, den Essay von Markus Decker als eine feine Grundlage zu sehen, seinen eigenen aktuellen Lebensgefühlen auf die Spur zu kommen. Deckers Essay ist mehr als nur eine „geistreiche Abhandlung“ (A. Knecht).

  2. zu @ Jürgen Malyssek
    Man kann das was Bronski geschrieben hat einfach so stehen lassen. Vieles was derzeit und die letzten Jahre passiert ist hat damit zu tun das die handelnden Personen keine eigenen Kriegserfahrungen haben und deshalb immer weniger Scheu keine Rücksicht zu nehmen. Über das was der Zusammenbruch der Planwirtschaft in der Marktwirtschaft ausgelöst hat habe ich an anderer Stelle letzte Woche geschrieben. Das geht in die gleiche Richtung.

  3. zu hans:
    Da ist schon was dran, mit dem Argument der mangelnden(Nach-)Kriegserfahrung. Aber jeder, der sich mit dem Heutigen auseinander setzt, kommt um persönliche, familiäre und gesellschaftlichen zurückliegende Erfahrungen nicht ganz herum, meine ich. Das muss deshalb nicht ganz zurück zur Kriegszeit führen. Siehe Bronski, siehe Decker und …
    Sicher ist die Zeit des Zusammenbruchs der Planwirtschaft auch eine Markierung.

  4. Ich weiß nicht, ob die Formulierung noch gängig ist. In meiner Jugend hätte man gesagt, dass ich mich in diesem Artikel nicht wiederfinde. Aber ich bin auch 10 Jahre älter als Herr Decker.

  5. Bei allen aktuellen Entwicklungen, die genügend Anlass für Sorgen bieten, bleibt die Prognose des Großvaters von Bronski „Besser wird’s nicht mehr“ falsch. Alle objektiven Parameter – höhere Lebenserwartung, sinkende Säuglingssterblichkeit, Abnahme der Zahl von Hungernden, steigender Bildungsstand und verbesserte Wirtschaftslage – belegen eine langfristige positive Entwicklung auch in den armen Ländern der Welt. Und auch in Deutschland spricht die Statistik gegen die „gefühlte“ pessimistische Diagnose.

  6. Die Grundlinien warum die letzten Jahrzehnte, aus meiner Sicht, so gelaufen sind habe ich oben genannt. Den pessimistischen Ansatz das es nicht mehr besser werden kann möchte ich so nicht teilen. Es gibt die Theorie das die Marktwirtschaft und die Planwirtschaft zu den gleichen Ergebnissen führen wird wenn man beide gewähren lässt. Es zentralisiert sich alles und Wettbewerb wird durch Monopole erstickt. Deshalb hat man ja ein Kartellamt erschaffen. Wir sind aber trotzdem in diese Richtung unterwegs und wenn es nicht gelingt diese Entwicklung zu stoppen wird die pessimistische Prognose wahr. In letzter Zeit hat der Nationalismus die Fehlentwicklung noch beschleunigt so das man wirklich Bedenken haben muss. Nach meiner Meinung gibt es aber eine starke Entwicklung die dem entgegen steht und von der ich hoffe das sie Entwicklungen umkehrt. Ich habe die Tage einen Kommentar gelesen in dem stand das Trump der erste grüne Präsident der USA wird es aber noch nicht weiß. Die Energiewende ist dezentral und nicht mehr aufzuhalten. Das wird auf der ganzen Welt zu politischen Veränderungen führen. Vor ca 20 Jahren habe ich einen Vortrag von Hermann Scheer gehört und wenn man sich das heute anschaut was er damals vorausgesagt hat kann man nur staunen. Das Solarzeitalter ist ein Zeitalter des Friedens. Die Frage ist nur kommt es rechtzeitig.

  7. Zunächst: ich kann mich Markus Decker anschließen, mit seinem „Aus der Traum“. Obwohl 20 Jahre älter, habe auch ich eine Entwicklung durchlaufen, welche meistens auf Besserung hoffen ließ, und diese auch brachte. 1945,unehelich geboren,von einer verheirateten Mutter, aber nicht mit meinem Vater, bescherte mir bis 1968 insgesamt zwei Stiefväter, davon einen mit einer mit 2 1/2 verstorbenen Stiefschwester, etlichen „Bekannten“ meiner Mutter, acht Umzügen innerhalb Hessens, von der Rhön nach Eschwege nach Hochheim und weiter innerhalb des Kreises OF. Mit Kindergarten, Schulwechsel, Freundschaftswechsel, asozialen Verhältnissen, wie Schlafen auf der Küchenbank, Plumpsklo auf dem Hof mit Papier, das ich im Winter ansteckte, um es von unten her warm zu haben, Waschen im Becken in der Wohnküche, abgelegten Klamotten incl. kurzen Hosen mit Leibchen und langen mit Strumphaken befestigten Strümpfen – und entsprechender Verspottung, und und und. Besser wurde es erst, als meine Mutter nach dem Tode ihres zweiten Mannes 1968 das ererbte renovierungsbedürftige Haus für schlappe 30.000 DM verkaufen konnte und dann in eine eigene Wohnung mit dem Luxus eines internen Bades und eines Zimmers für mich ziehen konnte, wo ich dann nach 6 Monaten über meine Mutter meine spätere erste Frau kennen lernte – mit bereits vorhandenem Kind.

    Ich schreibe all dies, weil ich damals immer die Hoffnung und auch das Erleben hatte, das es aufwärts ging, besser wurde, das es sich lohnte, sich anzustrengen, etwas zu tun, zu leisten, weil dies zumindest zum Teil zurück kam. Es ging dann voran, bis 1989, weil die politischen Systeme hier in D. im Wettbewerb waren, und die BRD einfach beweisen mußte, das bessere System gegenüber der DDR zu sein.

    Es hielt dann noch ein paar Jahre an, aber irgendwann sagte sich der Kapitalismus: Wir müssen ja nicht mehr beweisen, das bessere System zu sein, und deshalb können wir uns jetzt erlauben, endlich einmal das Soziale weg zu lassen, und Kapitalismus, der Begriff: „Neoliberalismus“ war da noch nicht so geläufig, wie die Adepten Keynes oder Friedman, voll auszuleben, und den Kapitalisten, fürnehm „Leistungsträger“ genannt, zu gestatten, sich hemmungslos auf Kosten der Unter- und Mittelschichten zu bereichern.

    Inzwischen erleben viele hier im Lande Verhältnisse wie ich damals in meiner Kindheit und Jugendzeit. Blümchenkaffee, Brot, in diesen getunkt, und dann Zucker drauf gestreut, Brot vom Vortag billiger beim Bäcker gekauft und beim Metzger nur Wurstschnipsel. Vielleicht einen alten Grude-Herd zum Heizen, aber ansonsten „warm anziehen“, in jedweder Hinsicht und Beziehung.

    Da die Menschen von den Versprechungen der etablierten Parteien, früher die CDU, jetzt auch die SPD, enttäuscht waren und sind, wenden sie sich denen zu, die versprechen, alles anders zu machen. Mensch muß nicht wissen, nur glauben, an Besserung, an Änderung. Glauben hält aufrecht, gibt Hoffnung, hält am Leben, auch wenn dieses erbärmlich ist. Wir haben Kohl und Blüm und Katzer gegen Schröder und Fischer ausgetauscht, und hoffen jetzt auf Schulz. Warum? Weil die Hoffnung zuletzt stirbt.

    Wir suchen uns neue Schuldige. Da sind Ausländer, die wir früher als Freunde, als Nachbarn und Arbeitskollegen begriffen. UNd wir sind wiederum unseres Unglückes Schmied. Wir begreifen all dieses Wandel, diese Globalisierung nicht, weil es uns Angst macht. Daher igeln wir uns ein, spannen Schirme auf, folgen neuen Rattenfängern, und werden wieder so etwas wie religiös, wenn auch ohne die alten Götter.

  8. Ich muß noch etwas für mich Wichtiges ergänzen: Es war im Frühjahr 1959, nachdem ich aufgrund schlechter Leistungen die Quinta des Leibziz-Gymnasiums in Offenbach das zweite Mal wiederholte, und dann aufgrund schlechter Noten abgehen mußte. Ich hatte 1956 in Wiesbaden auf dem Rudolf-Koch-Gymnasium mit Französisch als erster Fremdsprache angefangen, und sowohl die Sprache als auch die Lehrerschaft gemocht. Und dann 1957 Umzug in den Kreis OF, und in OF als erste Fremdsprache Englisch, mit dem Zwang, ein Jahr nach zu holen, leider gescheitert, weil dann auch in Mathe ein Fünfer blockte.

    Wäre aber alles nicht so schlimm gewesen, wenn nicht der damalige Rektor, in meiner Gegenwart, auf die Bitte meiner Mutter hin, mich weiter machen zu lassen, lakonisch gesagt hätte: „Hat doch keinen Zweck, d e r ist doch unehelich.“
    Ja, in wirklich zartfühlender Pädagoge, mit tiefem Einblick in Kindesseelen.

    Habe dann die achte Klasse der Volksschule besucht und danach zwei Jahre Handelsschule. Und, damals ging das noch, trotzdem eine gute Ausbildung zum Industriekaufmann gemacht.

  9. @ Wolfgang Fladung
    Das, was Sie von Ihrer Kindheit schildern, ist sicher nicht dazu angetan, ein glückliches und erfolgreiches Kind heranwachsen zu lassen. Nur erlauben Sie mir die Frage: War es „die Zeit“ oder „das System“, das an all dem kindlichen Leid schuld war, oder nicht auch die Mutter, die dem Kind all das zumutete? Für mich sieht es so aus, als sei da eines zum anderen gekommen.

  10. Brigitte Ernst verweist auf einen wesentlichen Punkt.
    Mit der verallgemeinernden Einteilung in „Optimisten“ und „Pessimisten“ kommt man sicher nicht weiter.
    Der Spruch „Es wird nicht besser“ spiegelt lediglich die zeittypische Reduktion aufs Ökonomische und gängige Verdrängungsmuster wider.
    Und auch der Essay von Markus Decker krankt an der Vermischung von Politischem und Privatem, ohne dass der Zusammenhang aufgezeigt wird. Nach vielen Untersuchungen sehen Menschen, die überall Verfall, Beschiss und Lügen orten, ihre private Situation meist als gar nicht so schlecht an.
    Und was die von Frau Ernst angesprochene – sicher auch zeitbedingte – pädagogische Ebene betrifft: Ich habe noch genau den Ton meiner Mutter von „den Eigensinn brechen“ im Ohr, wenn wieder einmal – dem Andenken an den Vater zu Ehren – eine der drakonischen, in keiner Weise vermittelten Strafen fällig war, um „zur Einsicht“ zu kommen. Und es gibt genügend Beispiele für den „Erfolg“ dieser Strategie, das Rückgrat zu brechen.
    Ich bilde mir doch ein, solche Erfahrungen unseren Kindern erspart zu haben und dass unser Verhältnis ein völlig anderes ist. – Und das soll kein Fortschritt sein?
    Und was – zurecht beklagte – neonazistische Tendenzen betrifft, wäre erstmal nachzuweisen, dass diese erst neu entstehen und nicht schon dauernd latent vorhanden waren. Statt ein Klagelied anzustimmen, sind eher Reflexionen über Gegenmaßnahmen angebracht.

  11. zu @ Werner Engelmann
    Und was – zurecht beklagte – neonazistische Tendenzen betrifft, wäre erstmal nachzuweisen, dass diese erst neu entstehen und nicht schon dauernd latent vorhanden waren
    Wenn diese Tendenzen wirklich schon vorhanden waren stellt sich die Frage warum sie gerade jetzt so heraus kommen. Ich habe im Oktober hier einen Beitrag geschrieben in dem ich auf meinen Urlaub in Bulgarien eingegangen bin. Da war ich ein paar Tage vorher. Da ich da auch schon ca 1980 war konnte ich ganz gut vergleichen wie die Leute aus den östlichen Bundesländern da leben konnten. Ich musste wirklich schockiert feststellen das die Leute die dort Urlaub gemacht haben genau so jeden Lewa umdrehen mussten wie vor 30 Jahren. Auch die Verteilung wen man da trifft ist wie früher. Ca 80- 90 % aus dem Osten und der Rest aus dem Westen. Das bedeutet der Eintritt in die gelobte Marktwirtschaft hat den Leuten von dort nichts gebracht. Zum Thema Mindestlohn stelle ich einen Link ein, aber das waren mit Sicherheit keine Leute die Mindestlohn beziehen denn die werden sich auch das nicht leisten können. Das da extremistische Parolen dann verfangen können wundert mich nicht wirklich.
    http://www.google.de/url?sa=t&rct=j&q=&esrc=s&source=web&cd=1&cad=rja&uact=8&ved=0ahUKEwjI2OmU3-bRAhWHWCwKHZ9sCycQFggaMAA&url=http%3A%2F%2Fwww.freiepresse.de%2FWIRTSCHAFT%2FWIRTSCHAFT-REGIONAL%2FMindestlohn-wirkt-vor-allem-im-Osten-artikel9677998.php&usg=AFQjCNE7VHAwJl2987N8CfzwYUwftEoHfQ

  12. zu Brigitte Ernst, 29. Januar 2017 um 0:40: Theoretisch mag meine Mutter eine Mitschuld haben, praktisch hatte sie keine Wahl. Sie hatte keinen erlernten Beruf, und hat sich immer mit Hilfsarbeiten durchgeschlagen. Sie wollte mir ein Zuhause geben, und ist daher auch Zeit ihres Lebens 4 Ehen eingegangen, die erste bereits im WK II, und hat es nach der Scheidung immer wieder neu probiert. Von der letzten blieb ihr dann ein Teil seiner Rente, weil hier der Tod des Mannes und nicht eine Scheidung der Trennungsgrund war. Zu diesem Zeitpunkt war ich jedoch bereits aus dem Haus und selbst verheiratet, und von der Witwenrente konnte sie leben. Vom Mann davor hatte sie, da dieser 1964 verstarb, nur das renovierungsbedürftige Haus übrig behalten, aber nur eine winzige Rente, da er von Beruf selbständiger Schneider war und später dann Hilfsarbeiter in der Galvanik ohne großen Verdienst. Das „Kennenlernen“ erfolgte immer über Anzeigen, und meine Mutter ist dann eben zu den Herren gezogen. Daher auch die vielen Umzüge und Schulwechsel.

  13. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, sich mit der Frage zu beschäftigen, ob es besser wird. JaMs Methode (ich vermute bei ihm einen naturwissenschaftlich gebildeten Menschen) ist es, nach Kriterien zu suchen, die messbar sind, möglichst durch Zahlen ausdrückbar und unabhängig von den subjektiven Empfindungen sind. Diese Methode führt zu optimistischen Ergebnissen.
    Sie hat aber auch „gravierende Nachteile“. Ihre Ergebnisse stimmen überhaupt mit unseren subjektiven Empfindungen, unseren Kindheitserinnerungen oder unseren Urlaubserinnerungen überein.
    Man könnte ins Grübeln kommen, was denn die Realität ist. Sind es JaMs Messwerte oder das was ich täglich sehe oder zu sehen glaube.

  14. Also, ich bin 20 Jahre älter als Markus Decker. Das habe ich bereits im Leserbrief erwähnt. Das ändert aber nichts daran, dass er in seinem Essay die Lebensgefühle der Menschen heute (Beispiele sind genannt)so wiedergegeben hat, dass ich damit sehr viel anfangen konnte. D.h., das Lebensalter und die Generationenerfahrungen sind nicht alleine entscheidend, ob ich mich in einem Artikel, wie dem von Decker wiederfinde oder nicht. Es ist die Nähe, die ich zu einem Thema habe oder nicht habe. Und was der Autor in der Lage ist rüberzubringen, zum Beispiel für das Epochen- und Politikverständnis. Das hat er für mich rübergebracht (Anmerkung Henning Flessner, 28.01.).
    Zu JaM: Man kann nicht einfach die „Prognose“ des Großvaters von Bronski „Besser wird’s nicht mehr“ deshalb als falsch oder richtig bezeichnen mit der Begründung, dass die und die
    „objektiven Parameter“ das und das heute belegen. Es geht bei so einer persönlichen Aussage um eben ein Lebensgefühl, auch resultierend aus einer bestimmten Lebenserfahrung, nicht um scheinbar objektive Kennziffern oder gesellschaftliche Standards. Die mögen für den einen Garant für ein sorgenfreies Leben sein und für den anderen eher als belastend oder bedrohlich erlebt.
    Es wird viel zu kurz von der Etikettierung „Optimisten“ und „Pessimisten“ Gebrauch gemacht. Manchmal habe ich den Eindruck, dass der Pessimist als der ausgemachte Störenfried im Lande gilt, wenn man scheinbar mit aller Macht die schlechte Stimmung vertreiben will, weil man sie nicht aushält. Sie (hans) wehren auf der einen Seite den pessimistischen Ansatz (Großvater Bronskis?) ab, um dann in der Folge berechtigte Gesellschaftskritik zu üben und auf folgenschwere Entwicklungen einzugehen. Das lese ich zumindest als nicht sehr konsequent als Argumentionslinie.
    Bei Herrn Flessner geht gleich das Herz auf: „Endlich ein Optimist!“ Der Optimist hat es bestimmt leichter im Leben, aber es entgeht ihm auch einiges an Wahrnehmung.
    Herr Fladung ist jedenfalls sehr viel näher dran an dem, was der Ausgangspunkt für die Auseinandersetzung mit dem Essay von Markus Decker „Aus der Traum“ war, nämlich ein Zusammenbringen von dem Biografischen und dem Gesellschaftlichen. Zu erkennen, wie beides die Existenz bestimmt. Dafür hat Fladung sehr viel aus seinem von Abbrüchen und Neuanfängen an die Oberfläche gebracht und sie mit den Hoffnungen und Enttäuschungen in Verbindung gesetzt. Aber auch die Reflexion an den Zuständen in Politik und Gesellschaft nicht weggelassen. Das ist doch das, warum es gehen kann.
    Nein, mit der Einteilung in „Optimisten“ und „Pessimisten“ kommt man sicher nicht weiter (W. Engelmann, 29.01.).
    Aber, da widerspreche ich ihm, wenn er behauptet, dass der Essay von Markus Decker „krankt“ an der Vermischung von Politischem und Privatem. Decker vermischt nicht, sondern beschreibt die Ebenen Lebenswelt, Gesellschaft, Zeitgeschichte. Es ist eine Reflexion. Es geht doch gerade um seinen Hinweis, diese Sphären als eine Art Prägung und Empfindung des eigenen Lebens zu erkennen.
    Dabei gibt es sehr typische zeitbedingte Erfahrungen mit Eltern, Großeltern, Lehrern oder Kirchenmenschen (Erziehung, Strenge, Strafe, Stigmatisierung, Befreiung usw.).
    Jeder Mensch verarbeitet seine frühen Erfahrungen anders, je nach Persönlichkeit und Umfeld oder zieht unterschiedliche Konsequenzen daraus für sein späteres Leben. Da kann man keine Gesetzmäßigkeiten aufstellen. Dann haben wir eher selten gleiches erlebt, aber ähnliches. Darüber sprechen wir dann, wenn wir uns austauschen. Wenn wir aus unseren Erfahrungen lernen, z.B. es bei unseren eigenen Kindern besser zu machen, als wir es selbst „negativ“ erlebt haben, dann ist es sicher ein „Fortschritt“. Insofern ist vieles bestimmt besser geworden. Aber das kann kein Grund sein, den Blick für die weiterhin neuen „Rückschritte“ zu vernachlässigen. Es ist ja nicht gleich ein Klagen und Jammern.

  15. @ Wolfgang Fladung
    So wie Sie das Leben Ihrer Mutter schildern, war sie natürlich ein Kind der Ideologie ihrer Zeit. Als Frau brauchte sie, so wurde ihr wahrscheinlich vermittelt, keine Ausbildung, weil sie ja doch heiraten würde. Das ist auch heute noch die Falle, in die viele Frauen tappen. Und wenn sie doch arbeiten, dann Teilzeit, weil sie sich um die Kinder kümmern müssen. Und wenn die Ehe auseinander geht, stehen sie mit einer viel zu kleinen Rente da. Ich selbst hatte da Glück, weil meine Eltern mir ein Studium ermöglicht haben. Aber als ich als Ehefrau mit zwei Kindern in den 1970er Jahren immer noch berufstätig sein wollte – natürlich jahrelang in Teilzeit, ich gebe es zu – da wagten meine Eltern zwar nicht, mich offen zu kritisieren, aber ich konnte ihnen ihre Missbilligung von der Nasenspitze ablesen. Und auch die anderen Angehörigen ihrer Generation vermittelten mir, dass eine anständige Mutter zu Hause zu bleiben habe. Als die Kinder dann groß waren und die Ehe auseinsnder ging, konnte ich für eine anständige Alterssicherung noch 20 Jahre voll arbeiten. Verglichen mit meiner Mutter, die sich das Haushaltsgeld von ihrem Ehemann zuteilen lassen musste und nicht einmal Zugang zu seinem Konto hatte, ist mein Leben eine einzige Befreiungsbewegung. Ich habe also die Erfahrung gemacht, dass es für mich immer besser wurde. Und in der nächsten Generation ist diesbezüglich auch noch Luft nach oben. Mein älterer Sohn, der im öffentlichen Dienst beschäftigt ist, hat sich die Elternzeit für seinen Sohn brüderlich mit seiner Frau geteilt, jede(r) sieben Monate. Das hätte ich von meinem eigenen Mann nicht erwarten können.

  16. @ hans,29. Januar 2017 um 7:52

    In der Regel hilft richtiges Lesen weiter und erspart auch manche Missverständnisse.
    Ich spreche klipp und klar von „neonazistischen Tendenzen“! –
    Wollen Sie im Ernst Menschen, die um ihren Lebensunterhalt kämpfen, mit Neonazis in einen Topf werfen? – Das wäre eine ungeheuere Beleidigung für diese, selbst, wenn manche aus verständlicher Verbitterung für „extremistische Parolen“ und Protestformen anfällig werden, mit denen sie sich selbst schädigen, und z.B. AfD wählen.

  17. @ Jürgen Malyssek: Danke. Sie beschreiben den Essay von Decker auch so, wie meine Frau und ich ihn verstanden haben. Übrigens sind wir beide wohl ein Jahrgang, 1945?

  18. @Jürgen Malyssek
    JaM schreibt über „höhere Lebenserwartung, sinkende Säuglingssterblichkeit, Abnahme der Zahl von Hungernden, steigender Bildungsstand und verbesserte Wirtschaftslage“ und Sie antworten, dass das „für den anderen eher als belastend oder bedrohlich erlebt“ wird. Wer nicht mal in sinkender Säuglingssterblichkeit etwas Positives sieht, für den muss die Welt wirklich die Hölle sein.

    „Bei Herrn Flessner geht gleich das Herz auf: „Endlich ein Optimist!“ Der Optimist hat es bestimmt leichter im Leben, aber es entgeht ihm auch einiges an Wahrnehmung.“
    Es ist eine Illusion, zu glauben, dass wir die Welt so sehen, wie sie ist. Unser Gehirn ist gar nicht dazu in der Lage, alle Informationen, die uns die Sinne mitteilen, zu verarbeiten. Wir treffen eine subjektive Auswahl und das ist dann unsere Realität.
    Es geht wohl hier gar nicht darum, ob die Welt besser wird. Es geht nur um die Sicht der Welt.
    Viele scheinen sich in ihrem Schwarzsehen und Missmut ganz wohl zu fühlen. Wenn der andere auch nur die Löcher im Käse sieht, kommt gleich ein Gemeinschaftsgefühl auf.
    Ich beginne auch zu verstehen, warum A. Merkels „wir schaffen das“, das übrigens fast immer falsch zitiert wird, so schlecht ankommt. Sie hat ursprünglich gesagt, dass man an das Problem mit der Haltung „wir schaffen das“ rangehen muss, wie ein Fußballtrainer, der der Mannschaft vor dem Spiel sagt: „Leute, heute gewinnen wir.“
    Die meisten scheinen mehr die Haltung zu mögen, wenn der Trainer sagt: „Wir sind zwar Tabellenführer, aber jetzt kann es nur noch schlechter werden. Wir gehen besser gar nicht raus.“
    Woher kommt diese permanente schlechte Laune? Ist das typisch deutsch, wenn es typisch deutsch überhaupt gibt? Liegt es am Wetter? Ist es genetisch bedingt?
    Unsere Sicht der Welt ist häufig durch unsere beruflichen Erfahrungen geprägt. Da Journalisten hauptsächlich Negatives berichten, ist es verständlich, wenn man mehr Löcher als Käse sieht.

  19. zu @Jürgen Malyssek
    Für eine positive Prognose ist eine realistisch kritische Istzustandsbeschreibung kein Widerspruch sondern eher hilfreich.

    zu @ Werner Engelmann 30.01.0:39
    Ich werfe die Leute die aus Endtäuschung anfällig für rechte Parolen sind nicht mit Rechten in einen Topf sondern weise darauf hin das dies passiert.
    Ich verlinke unten wie die Zeit neonazistischen Tendenzen definiert.
    http://www.zeit.de/1955/14/was-ist-neonazismus

  20. Ja, Herr Fladung, wir sind beide Jahrgang 1945. Es gibt nicht so viele davon (was bitte nicht als Angeberei gedeutet werden soll). Es gibt von unserem Lebensgefühl und der Wahrnehmung der Welt durchaus Parallen.
    Zu Herrn Flessner: Sie machen mir das Leben natürlich argumentativ etwas schwerer. Aber ich kann noch etwas entgegensetzen.
    Die Welt ist nicht gleich die Hölle für mich, nur weil ich wirklich kein glühender Optimist bin. Aber meine Skepsis war mir eine große Hilfe, nicht auf alles reinzufallen, was gerade so einladend daher kam. Persönlich, beruflich, politisch.
    Ich will den harten Daten, die Sie aufgezählt haben gar nicht viel entgegensetzen, kann ich auch gar nicht. Aber sämtliche Fortschritte haben meistens die Kehrseite der Medaille mit sich gebracht, wenn auch nicht sofort. Dazu zählt auch die Wirtschaft. Wir erleben es und wir werden noch ganz andere Entwicklungen bei der Digitalisierung der Welt erleben. Dafür könnte ich fast gerade stehen. Über den medizinischen Fortschritt will ich nicht lästern, aber auch da gibt es viele Seiten, wo das Machbare das Moralische und Menschliche weiter zurückdrängt.
    Über eines müssen wir glaube ich nicht mehr streiten (nebenbei hat der neue Wundermann Schulz dafür auch nur Sprechblasen bereit): Die soziale Grundordnung funktioniert überhaupt nicht mehr!
    Im Übrigen bringen Sie ja selbst weiter oben ein Grübeln zum Vorschein, was denn nun die Realität ist: das Messbare oder das Erlebbare?

    Ob wir die Welt so sehen, wie sie ist, ist eine spannende philosophische Frage, die ich nicht absolut beantworten kann. Und es geht bestimmt nicht nur darum, ob die Gehirnleistung dazu ausreicht. Das ist mir zu wissenschaftlich. Wir treffen auch nicht nur eine „subjektive Auswahl“. Gerade die Debatte um den Essay von Markus Decker hat doch gezeigt, dass es um mehr geht als Informationen aufzunehmen und zu verarbeiten. Es geht um Leben erfahren. Die Welt an sich ran lassen. Wir denken nach (möglichst). Da wird die Wahrnehmung der Welt mehr als nur zu einem subjektiven Blick darauf.
    Ich lebe jedenfalls nicht in der Hoffnung, dass die Welt besser wird, aber ich versuche nach Kräften mich mit den Zuständen auseinander zu setzen. Das kann ein Menschenleben ausfüllen.
    Philosophie, Soziologie oder Psychologie haben ja auch einiges zu bieten. So ganz mit leeren Händen steht man auch nicht da, wenn es um Weltsicht und Menschenbild geht.
    Merkels Satz „Wir schaffen das“ habe ich schon als Haltung verstanden. Deshalb habe ich das auch nicht kritisiert und werde es auch nicht tun. Was politisch daraus gemacht wird, haben wir sattsam erfahren.
    Und wenn Sie mir schon mit einem Beispiel aus dem Fußballsprech kommen, kann ich gut erwidern. Das Starkreden der Mannschaft vor dem Spiel gehört zu den Grundeinstellungen eines Fußballers, ob Trainer oder Spieler. Es sind nicht „die meisten“ mit der Haltung, beispielsweise als Tabellemführer, eine Mannschaft mit einer schlechten Botschaft aufs Feld zu schicken. So ein Trainer hätte keine Chance zu überleben. Die Diskussion, ob Optimist oder Pessimist zu sein, auf dieses Fußball-Beispiel zu übertragen, geht schief.

    Zu Ihrem Bild mit den Löchern im Käse kann ich noch eine muntere Version liefern, die, wenn ich mich nicht irre von Bertolt Brecht stammt: Was wird aus den Löchern, wenn der Käse gegessen ist?“
    „Woher kommt diese permanente schlechte Laune? Ist das typisch deutsch? Liegt es am Wetter“
    Ich habe zum Beispiel durchaus auch eine andere Wahrnehmung von Menschen in meinem Umfeld oder auf Straßen und Festen. Und könnte genau so fragen: „Warum immer diese gute Laune und Sektstimmung, wenn’s eigentlich gar nicht so viel zum Lachen gibt (Fasching lasse ich mal aus). Da gibt es eine Art von guter Laune, die ich schon fast aufdringlich finde.
    Außerdem (Ihr letzter Satz) ist der Journalist kein Unterhaltungskünstler und sollte mit seinen Berichten nicht die Leute bei Laune halten, sondern recherchieren, hinterfragen …

  21. Ich will es Ihnen noch etwas schwerer machen. Sie haben keine Hoffnung, dass die Welt besser wird. Da hier fast alle (Frau Ernst; Jam und ich ausgenommen) der Meinung sind, dass alles immer schlechter wird, muss eine bessere Zeit gegeben haben.
    Da Sie ja vermutlich auch gerne in einer besseren Zeit leben würden, welche Zeit würden Sie wählen, wenn Sie die Wahl hätten? Wann hätten Sie gerne gelebt: vor 20, 30, 40, 50 Jahren, vor 200 Jahren, im Mittelalter, im Altertum? Wann war Ihre gute alte Zeit?
    Meine „gute alte Zeit“ liegt in der Zukunft, weil ich einfach mal die Entwicklung der letzten 3000 Jahre extrapoliere.

  22. @ Henning Flessner

    Hier kippt das Thema. Die „gute alte Zeit“ mag die andere Seite der emotionalen Medaille sein, über die wir hier reden, aber ich habe trotzdem den Eindruck, dass Sie — und auch JaM schon — sich vom eigentlichen Thema entfernen. Ich möchte gern dahin zurück. Die Worte meines Großvaters „Besser wird’s nicht mehr“ erheben den Anspruch, eine Feststellung mit Wahrheitsanspruch zu sein. Patriarchen tun sich leicht mit so was, aber man muss das keineswegs hinnehmen. Um Objektivierbarkeit hat sich mein Großvater ganz sicher nicht geschert. Die Nachrichten von der Abnahme der Säuglingssterblichkeit oder des Hungers in der Welt hätte er wohl mit Interesse zur Kenntnis genommen, aber nicht als Veränderung oder gar Verbesserung seiner persönlichen Verhältnisse begriffen.

    Ich persönlich bin wie Frau Ernst, JaM und Sie der Meinung, dass Vieles seitdem durchaus besser geworden ist. Auch meine persönlichen Lebensumstände sind besser, als sie in der 80er Jahren waren. Das kann ich an Fakten festmachen. Die Wahrnehmung vieler Menschen, dass sich die Dinge jetzt nur noch negativ entwickeln, mag irrational sein, aber sie ist anscheinend trotzdem real. Ich glaube nicht, dass es sinnvoll ist zu versuchen, den Menschen positive Entwicklungen ins Bewusstsein zu rufen, die sie nicht erlebten. Es gibt genügend negative Entwicklungen, auch auf der objektivierbaren Ebene, die Ihnen entgegengehalten werden können, etwa:

    – noch nie in der Geschichte der Menschheit waren so viele Menschen gleichzeitig auf der Flucht;
    – die Ausgaben für Rüstung haben global historisch einmalige Ausmaße angenommen;
    – Dürren nehmen zu, Trinkwasservorräte ab, so dass die mühsam eingefahrenen Milleniumsziele wohl nur vorübergehende Erfolge darstellen;
    – trotz allem wächst die Bevölkerung dieses Planeten weiter.

    Wenn man so an das Problem herangeht, muss einem die Gerechtigkeitsdebatte, die Deutschland sich leistet, wie ein Luxusproblem vorkommen. Es ist aber ein Problem, das irrational, doch real ist. Mit einer Extrapolation der vegangenen 3000 Jahre, wie Sie sie anbieten, kommen wir also nicht weiter. Ich danke Ihnen dafür und schlage vor, dass wir uns gelegentlich mal darüber unterhalten, vielleicht in einem Blogtalk, aber an dieser Stelle möchte ich dazu aufrufen, uns in dieser Debatte mit dem zu beschäftigen, was Herr Malyssek „das Erlebbare“ genannt hat. Man könnte auch sagen: das subjektiv Erlebte, was formend gewirkt hat. Das ist es ja, was Markus Decker in seinem Essay in den Vordergrund gestellt hat.

  23. @ Bronski

    Es kommt doch immer sehr auf die psychische Verfassung an. Ich hatte in meinem Leben Phasen, in denen ich in meiner Wahrnehmung nur noch in ein tiefes schwarzes Loch blickte, und das als junger Mensch und völlig ohne objektiven Grund. Wem es vergönnt ist, aus einem solchen Abgrund wieder aufzutauchen und das Leben um sich herum wieder wahrzunehmen, der sieht die Welt mit anderen Augen. Der kann sich an den kleinen Dingen des Lebens freuen, auch wenn es viel Unglück auf der Welt gibt. Hilft es den Mühseligen und Beladenen, wenn man sich nur an seiner Verbitterung ergötzt?

  24. @Bronski
    Sie haben wohl recht, dass es keinen Sinn macht, jemandem, der an der «German angst» leidet, zu sagen, dass diese einer faktischen Grundlage entbehrt.
    Da ich an dieser nicht leide, kann ich nichts mehr beitragen.

  25. @ Bronski: Die „Gerechtigkeitsdebatte“ zu führen, fällt all denen schwer, die sich mühsam mit ihren paar Kohlen von Woche zu Woche durchhangeln müssen. Auch wenn die Wohnung warm und zumindest ein Brot von vorgestern im Schrank liegt. Sie siehen eher nicht die Hungernden Millionen in Nigeria oder die Waldbrände in Chile, sondern den Brief mit der Mieterhöhungs-Ankündigung von gestern.

  26. Lieber Herr Flessner, ich will dem Hinweis Bronskis folgen und nicht vom Thema abweichen, aber Ihnen dann doch noch auf Ihre Suggestivfrage kurz antworten: Ich kann nur in der Zeit leben, in der ich mich nunmal befinde. Hätte ich denn eine Wahlmöglichkeit oder geht mir so ein Gedanke durch den Kopf, könnte ich mir vorstellen im späten Mittelalter zurechtgekommen zu sein. Spontan fände ich die Kantsche Zeit (18.Jh.) und die um Nietzsche (2. Hälfte 19. Jh.)sehr spannend. Mit einer „guten alten Zeit“ hat es für mich trotzdem wenig zu tun. Ein Gedankenspiel.

  27. Lieber Herr Malyssek und lieber Herr Flessner,

    für mich kommt überhaupt nur eine Zeit in Frage, in der ich leben möchte, und das ist die heutige, und zwar in der westlichen Welt. Männer mögen da mehr Auswahl haben, aber ich bin eine Frau. Erst in unserer Zeit kamen Menschen auf die Idee, dass Frauen Männern gleichwertig und gleichgestellt sein könnten. Auch wenn das manchem Mann hier im Blog vielleicht gleichgültig ist: für mich ist es das einzig Entscheidende.

  28. @ Brigitte Ernst: Ich gehöre nicht zu denjenigen, denen die Gleichwertigkeit von Mann und Frau gleichgültig ist. Weil ich mich selbst in meiner Kindheit oft als Mensch zweiter Klasse gefühlt habe, wegen dem „unehelich“. Übrigens hat sich der erste Mann – war damals der Schilderung meiner Mutter nach – wohl zwar zur Hochzeit in der Heimat, danach aber an der Front, und die damalige Ausrede, ein schlechter Witz, „Da siehst Du mal, wie sehr ich an Dich gedacht habe“, überstieg wohl sein Humorempfinden. Aber ich erinnere mich, das ich damals im Kindergarten und in der Schule danach öfters Kameraden hatte, welche im Teint eine leichte Braunfärbung hatten – wohl weil die Care-Pakete etwas zu gut geschmeckt haben. Nur, das die Ersatzväter bzw. Kriegs- und Gefangenschafts-Heimkehrer oft psychisch so ruiniert und instabil waren, das sie die Kuckuckskinder einfach in Kauf nahmen – und die Alimente waren ein willkommenes Zubrot. Bitte mich zu korregieren, aber ich meine, das die US-Armee z.B. oftmals hier Alimente zahlte bzw. „Schadensersatz“ leistete.

  29. @ Bronski
    Über das „subjektiv Erlebte“ kann ich nicht diskutieren, ich kann es lediglich respektvoll zur Kenntnis nehmen. Worüber wir hingegen unterschiedliche Ansichten haben können, ist die Frage, welche Konsequenzen wir für unser heutiges und künftiges Leben aus dem Erlebtem ziehen müssen. Dazu ist meiner Meinung nach notwendig, das Gefühlte kritisch zu reflektieren und auch einem „Realitätscheck“ zu unterziehen. Dazu diente mein Beitrag, wobei es mir sicher nicht um Hurra-Optimismus geht (die von Bronski und anderen angesprochene Probleme und negative Tendenzen ignoriere ich nicht) und sich meine Weltsicht nicht auf messbare, ökonomische Faktoren beschränkt (obwohl Henning Flessner bei mir richtig einen naturwissenschaftlichen Hintergrund vermutet).

  30. Ja, genau so ist es, habe ich beim Lesen des Artikels innerlich gerufen und ja, am Ende stiegen mir (Jahrgang 1961) für einen kurzen Moment die Tränen in die Augen und schnürte sich die Kehle zu – aus Trauer um das, was sich aufzulösen scheint und um das, was kommen mag.
    Aber vielleicht ist der Traum, den wir träumten, doch noch sehr der unserer Eltern, die nach dem Krieg vor allem materiell gute Bedingungen schaffen wollten. Und vielleicht ist es Zeit, einen anderen Traum zu träumen und danach zu handeln, denn immer den gleichen Traum zu träumen, heißt manchmal Stagnation. Mache sich jeder von uns wieder bewusst, wofür es sich zu träumen lohnt, um dann zu handeln, sich einzusetzen.
    Martin Luther King sprach davon, wofür es sich lohnt: „I have a dream“ – eine Welt, in der Gleichheit, Freiheit, Gerechtigkeit und Brüderlichkeit herrschen. Geistige Werte. Gut also, dass der Traum hier aus ist und wir erwachen, um einen neuen, gerechteren, weniger materiellen träumen zu können. Und wir können täglich überprüfen, wie weit wir innerlich damit wirklich sind, nämlich in unserem Tun unseren Familienangehörigen gegenüber, Freunden und Arbeitskollegen.

  31. Zu JaM: Warum kann ich über das subjektiv Empfundene und Erlebte nicht diskutieren? Also in den Austausch, in den Dialog gehen. Es ist ja gerade die Stärke des Decker-Essays, dass er mich und andere anregt, über das eigene Erlebte nachzudenken. Das also an mich ran zu lassen.
    Es geht ja nicht sogleich um Lösungen und Konsequenzen. Das wäre dann das nächste Kapitel. Aber auch das ist explizit Inhalt dieses Essays (Stichwort: Existenz und Politik). Das Gefühlte zu reflektieren ist Teil des Ganzen. Also das Verarbeiten und die Erkenntnis. Das Erlebte (damals) und das Erlebbare (jetzt) und der „Realitätscheck“ sollten aber auch nicht als unverrückbares Schema gesehen werden. Mir fehlen bei solch einer angelegten Diskussion/Denke bzw. Auseinandersetzung sowas wie Überraschungen und Entdeckungen.
    Frau Helmboldt, ich glaube Sie ganz gut verstanden zu haben, weil ich den Essay von Decker nicht nur unter dem Aspekt der harten Fakten gelesen habe, sondern habe tiefe Nachdenklichkeit, über das was ist und woher es kommt, erlebt. Nur meine ich, bei aller persönlichen Betroffenheit, dass man nicht gleich seine Träume (da wären wir bei den Hoffnungen gelandet) über Bord werfen muss. Andererseits kann man auch ohne einen Traum á la Martin Luther King sich einsetzen für eine „bessere Welt“. Nämlich indem man für etwas steht, für eine Vorstellung, wie ein richtiges Leben aussehen kann/soll … irgendwo geerdet zu sein …
    Vielleicht ist das ja schon fast ein Traum?
    Etwas nüchtern betrachtet könnte Adornos Satz ganz hilfreich sein: „Wer denkt, setzt Widerstand.“

  32. Weder Trump noch die Pegida-Bewegung und auch keine Flüchtlingskrise wird mich je dazu bringen, das Münsterland der Nachkriegsjahre als Arkadien herbeizusehnen. Was für ein schön formuliertes Gejammer, Herr Decker! Ganz ehrlich: Dass die Menschen aus diesen erzkonservativen, spießigen Käffern auswandern, halte ich für einen Fortschritt. Wer hält es da freiwillig aus?
    Nichts gegen einen ordentlich gepflegten Weltschmerz, der in eine künstlerische Form gegossen wird- so sind schon Meisterwerke entstanden. Daher meine Bitte: Stürmen Sie die Charts, schreiben Sie Gedichte, meißeln Sie Ihre Gefühle in Holz oder Marmor, aber bitte schreiben Sie nicht solche depressiven Essays in der Zeitung! Hungersnöte, Kriege, sehr hohe Kindersterblichkeit verbunden mit einer äußerst geringen Lebenserwartung zwischen Küche Kindern und Kirche, wären meine Aussicht als Frau nicht nur im Münsterland bis vor paar Jahrzehnten gewesen und in vielen anderen Ländern der Welt heute noch. Also freue ich mich jeden Tag darüber, dass ich lebe und wie gut es mir geht. Für mich hat sich unglaublich viel verbessert im Vergleich zu der Generation meiner Eltern und Großeltern v.a. in Bezug auf Bildungsmöglichkeiten und Selbstbestimmung. Das öffentliche Vortragen von diffusen Zukunftsängsten hat noch nie zu einer Verbesserung der Lage geführt.

  33. Wie erschreckend einfach Sie (maat) sich das schöne Leben zurechtzimmern. Das wäre ja noch halbwegs hinzunehmen. Aber, dass Sie die Meinungen und Lebensgefühle anderer so versuchen ins Lächerliche zu ziehen, das ist weniger gut zu ertragen. Vielleicht sollten Sie mal überlegen, was Sie dazu treibt, von depressiven Essays und/oder den vergangenen Hungersnöten und Kriegen zu sprechen, um derartiges Herablassendes an die hiesigen Schreiber zum Ausdruck zu bringen!?
    Das sind Momente, wo meine durchaus vorhandene streitbare Freundlichkeit an Grenzen stösst.
    Ich möchte mich nämlich gerne an die Spielregeln in den Debatten halten, weil ich diese wichtig finde. Aber hier …

  34. Ich kann die Einschätzung des Beitrags von maat durch Jürgen Malyssek nicht teilen. Auch den Vorwurf des Versuchs, andere „ins Lächerliche zu ziehen“ halte ich für sehr überspitzt.
    So vieles im Essay von Markus Decker, bezogen auf die Gegenwart, zutreffend und bedenkenswert ist, bezogen auf die 50er Jahre ist die Bescheibung recht oberflächlich, selektiv und z.T. auch durch die rosarote Brille gesehen, nicht nur bei Sätzen wie diesem: „Die alte Bundesrepublik wirkte nicht nur wie ein Paradies, sie war eines.“
    Was maat vom Münsterland erzählt, kann ich auch von Bayern berichten. Wovon nichts im Essay zu finden ist: Dass diese Zeit, z.B. für uns als Flüchtlingsfamilie, vor allem Überlebenskampf bedeutete, und zwar nicht nur in sozialer Hinsicht, auch psychologisch: gegenüber Vorurteilen, Neid, repressive Erziehung und vieles mehr. Und mancher, dem das Rückgrat gebrochen wurde, oder der sein Leben lang an diesen Erfahrungen litt (wie z.B. mein Bruder) oder als Dorfdepp endete. Stoff genug, dass es für mich einer ganzen Roman-Trilogie bedurfte, um zu erfassen (aus der Sicht eines Flüchtlingsmädchens), was es hieß, damit zurecht zu kommen und sich daraus zu befreien.
    Eine kämpferische Sicht, auch aus dieser Zeit entstanden, die ich im Essay von Markus Decker und anderen Beiträgen vermisse.

  35. Und ich kann es manchmal nicht mehr verstehen, wie man so einen Essay von Markus Decker so auseinanderpflücken will, um just das alles wieder zu finden, was man selbst erlebt hat. Mal abgesehen davon, dass Markus Decker im meinem Falle 20 (zwanzig) Jahre jünger ist als ich. Da ist nichts Romatisierendes oder Schöngeschriebens in seinem Text. Es ist ein Blick zurück, ein Zeitgefühl und dann geht es zurück auf den politischen Blick heute usw. Alles schon gesagt worden.
    Natürlich kenne ich die Situation der Flüchtlingsfamilien, der Vorurteile ihnen gegenüber, der Armut, der autoritären Erziehung, der Auswirkungen auf das Leben der Einzelnen, bis hin zum Dorfdeppen und was weiß ich noch. Die fünfziger Jahre. Klar war das so.
    Markus Decker (51 J.) schreibt aber bereits aus den 1960/70er Jahren. Bitte auch genauer hinschauen!
    Was heißt hier, Herr Engelmann vermisst „eine kämpferische Sicht, auch aus dieser Zeit entstanden, die ich im Essay von Markus Decker und anderen Beiträgen vermisse“?
    Das ist doch keine Kampfschrift, dass ist eine Reflexion über die Zeichen der Zeit.
    Natürlich muss jetzt nicht jeder den Essay und die dazu positiven Kommentare abnicken. Aber der Ton beispielsweise von maat war für mich von einer Selbstgefälligkeit, ja und auch einem „ins Lächerliche gezogene“ getragen (“ …. Stürmen Sie die Charts, schreiben Sie Gedichte, meißeln Sie Ihre Gefühle in Holz und Marmor …“).
    Wenn Herr Engelmann meint, dass das so in Ordnung ist, dann gibt es dazu nichts mehr zu sagen. Dann trennen sich eben Welten. Schade.

  36. Danke Herr Engelmann!
    Decker unterschlägt auch die Endzeitstimmung, die es in der alten Bundesrepublik gab. Von wegen Idyll!
    Während des Kalten Krieges bestand die reale Gefahr eines Atomkrieges, ich erinnere u.a. an die Kubakrise 1962. In den 70ern wurde Deutschland von der RAF-Hysterie erschüttert. Als Verkäuferin in einem großen Kaufhaus war für meine Mutter die Terrorgefahr nicht weniger real als heute. Ich ängstigte mich als Kindergartenkind vor dem Waldsterben und der Umweltzerstörung und als Grundschülerin vor der unsichtbaren radioaktiven Gefahr (Stichwort: Tschernobyl). Ich war zutiefst betroffen von den hungernden Kindern in Afrika und während meiner Jugendzeit fand ich Bush junior nicht weniger bedrohlich als Trump heute und war erschüttert über die Brandanschläge auf Asylbewerberheime in den 1990ern…die Liste lässt sich fortsetzen. Argumente dafür zu finden, dass die Welt am Abgrund steht, gab es schon immer. Ich sehe nicht, dass wir heute wesentlich größeren Gefahren ausgesetzt sind als früher. Das soll kein Aufruf sein, die Hände in den Schoß zu legen, aber für die Verklärung alter Zeiten gibt es nun auch keinen Grund.

  37. @ maat
    Die Negativliste ließe sich beileibe fortsetzen. Mir fällt dazu beiuspielsweise die vehemente Ablehnung der ab 1995 (!) gezeigten Wehrmachtsausstellung durch Konservative bis Neonazis, die die Lüge von „sauber gebliebenen deutschen Soldaten“ verteidigten. Verdrängt werden offenbar auch die Altersarmut und das Elend der Sozialhilfe in der langen kalten Kohl-Zeit.

    Genauso ließe sich vieles Positive in den Biografien vieler Menschen anführen, welches dem angeblichen „Niedergang“ seit den 80er Jahren widerspricht, wozu ich auch die Befreiung Mittel- und Osteuropas vom Diktat der Sowjetmacht sowie die deutsche Vereinigung (trotz viele Fehler bei deren Umsetzung) zähle.

    Angesichts der vielen schwerwiegenden Probleme, mit denen wir uns im Augenblick konfrontiert sehen, kann ich das Gefühl verstehen, eine Zeitenwende zu erleben. Womöglich endet tatsächlich die Nachkriegsordnung des 20. Jahrhunderts. Mit den neuen Herausforderungen werden wir aber nicht fertig, wenn wir mit Rezepten von Gestern (die – anders als der nostalgische Blick zurück vortäuscht – auch schon damals nicht funktioniert haben) Lösungen für Morgen finden wollen.

  38. Von „Idyll“ (maat) war nie die Rede. So ist auch der Essay von Decker überhaupt nicht angelegt.
    Auch ich bin weit davon entfernt, die Zeit damals (ich meine insbesondere die 1950er/60er Jahre) zu idealisieren. Aber das so Erlebte baut nicht auf Phantasien auf.
    Was ich allerdings heute (nicht erst seit der Zeit des Terrors, der Angst, der eindeutigen Rechtsentwicklung und Trump & Co) erlebe, hat nun aber auch nichts mehr mit dem Besten aller Zeiten zu tun.
    Klar werden wir nicht mit sog. alten Rezepten (JaM) mit den heutigen schweren Problemen fertig. Es ist ja auch im Essay und auch in meinen und verwandten Äußerungen nicht davon die Rede. Keiner von uns sitzt oder steht hier mit einem Zauberstab in der Hand und hat DIE LÖSUNG parat. Der Blick zurück aber, kann vieles verstehbarer machen, wenn man es nicht gleich in die Schublade der Nostalgie oder Verklärung steckt. Hat man vielleicht auch Angst, dass einem die alte Gewissheit und Sicherheit verloren geht? Davor sollte man keine Angst haben, wenn man aus den Dilemmata der Zeit herauskommen will bzw. überhaupt verstehen, warum es so ist.

  39. Wenn mir Herr Decker die Frage nach der Zeitenwende gestellt hätte, hätte ich folgendes geantwortet: Ich bekomme von der Zeitenwende, die im Moment stattfinden soll, nur über die Medien etwas mit-deshalb erscheint sie mir sehr abstrakt. In meinem persönlichen Umfeld sehe ich dafür keine Anhaltspunkte. Ich lebe in einer Stadt, in der sehr viele Menschen mit Migrationshintergrund leben. Aus diesem Grund fallen die Flüchtlinge im Straßenbild nicht weiter auf. Von daher fühle ich mich nicht verunsichert, es wirkt auf mich alles normal. Ich finde, dass die Politiker in dem Bundesland, in dem ich lebe, was die Integration von Migranten angeht, über Jahre vieles richtig und gut gemacht haben, sodass ich zumindest für mein Umfeld zuversichtlich bin, dass es auch in der Zukunft klappt (und ich werde mich bemühen, meinen bescheidenen Teil in meinem Beruf dazu beizutragen.) Die Ängste, die ich habe, sind seit Jahrzehnten dieselben (vor dem Straßenverkehr, vor Krankheiten und plötzlichen Todesfällen in meiner Familie) Terroristen können mich da nicht weiter einschüchtern- ich rechne seit meiner Jugend mit dem Tod. Wenn ich in der Bahn sitze, finde ich nicht, dass die Stimmung sich verändert hat. Die Leute wirken nicht unfreundlicher, ängstlicher oder bedrückter als früher. Es schlägt mir weder soziale Kälte entgegen noch scheinen die Leute aggressiver. Gut, es ist auch schwer zu beurteilen, weil die meisten auf ihr Telefon starren. Ich habe auch nicht den Eindruck, dass die Menschen, mit denen ich täglich kommuniziere (und das sind berufsbedingt sehr viele) nach rechts gerückt sind oder das rechtes Gedankengut den Leuten leichter über die Lippen käme als früher. Ich bin selbst überrascht, aber Pegida-Anhänger und die AfD kenne ich nur aus den Medien nicht aus dem realen Leben. Natürlich finde ich die Hinwendung zum Nationalismus in Europa, die Decker anspricht, besorgniserregend, aber mir erscheint diese Entwicklung ausgesprochen surreal. Ich verstehe, dass Leute, die sich gesellschaftlich abgehängt fühlen, Ängste haben und unzufrieden sind, was der ideale Nährboden ist für radikale Positionen, aber die Mittelschicht hat in Deutschland meines Erachtens keinen Grund zum Jammern. In meiner Wahrnehmung stellt die Entwicklung in den letzten 20 Jahren im Medienbereich tatsächlich eine Zeitenwende dar. Und hier sehe ich auch einen Zusammenhang zur viel beschworenen Angst der Mittelschicht. Vereinfacht gesagt: Das Internet ist schuld, von der sozialen Plattformen bis hin zum Wohnblog werden Beispiele der Selbstoptimierung präsentiert. Die überall präsenten loftartigen Wohnträume, Designerfummel, Traumreisen, Traumautos und Traummenschen, vermitteln selbst stabilen Charaktern das Gefühl, irgendwas falsch gemacht zu haben. Auf jeden Fall fördern sie ein völlig verzerrtes Bild von dem, was normal ist und führen zu überzogenen Ansprüchen. Und hier sehe ich auch tatsächlich einen Unterschied zur Vergangenheit: Die Menschen waren früher mit weniger zufrieden. Ich selbst will meine Lebenszeit nicht dafür verschwenden, viel zu arbeiten, um möglichst viele Gegenstände anzuhäufen. Dinge zu besitzen finde ich sehr anstrengend, sie stehen dauernd im Weg rum, man muss sie putzen und pflegen. Dies ist auch ein Grund dafür, warum mir das Lebensgefühl, das sich in Deckers Text ausdrückt, so fremd ist. Die Sehnsucht nach der Vergangenheit bezieht sich zu sehr auf das „Haben“ nicht auf das „Sein“.

  40. An maat: Ich kann Ihnen mit den obigen Schilderungen durchaus besser folgen, als das, was sie weiter oben gesagt haben und wozu ich mich geäußert habe. Sehe aber auch bei Ihnen, dass Sie dem Zeitgeschehen durchaus kritisch gegenüber stehen. Nur bleibt es irgendwie immer so bedeckt. Ich kann es jedenfalls nicht so richtig fassen. Um auf den Text von Decker zurückzukommen und wo Ihnen das Lebensgefühl, das Sie dort herauslesen, so fremd ist, Sie das mit dem Besitz von Dingen begründen, kriege ich keinen Zusammenhang hin. „Die Sehnsucht nach der Vergangenheit bezieht sich zu sehr auf das ‚Haben‘ nicht auf das ‚Sein‘. Bei wem? Beim Text von Decker? Bei den Menschen (mit den überzogenen Ansprüchen heute), die sie davor beschrieben? Ich habe das ganz ehrlich nicht verstanden.

  41. @ Jürgen Malyssek, 2. Februar 2017 um 12:46
    „Wenn Herr Engelmann meint, dass das so in Ordnung ist, dann gibt es dazu nichts mehr zu sagen. Dann trennen sich eben Welten.“
    – Könnte man auch sehr viel lockerer sehen und z.B. mit Tucholsky antworten („Was darf die Satire?“):
    „Und wir müssen nicht immer gleich aufbegehren, wenn einer wirklich einmal einen guten Witz über uns reißt. Boshaft kann er sein, aber ehrlich soll er sein.“
    Wenn man jemandem das Recht zu locker-flockigen Formulierungen zugesteht, und sei es auch mit satirischem Einschlag, dann ist das noch keine inhaltliche Prinzipienfrage. Und noch viel weniger „trennen sich“ dann „Welten“.

    @ maat, 2. Februar 2017 um 14:48
    „Decker unterschlägt auch die Endzeitstimmung, die es in der alten Bundesrepublik gab.“
    – Der Vollständigkeit halber sei ergänzt, dass es auch das Gegenteil gab: massive Verdrängung.
    Beispiel: Nato-Doppelbeschluss, Großdemonstration in Bonn 1982 (war ja selbst dabei). Dabei ging es u.a um ein Pentagon-Strategiepapier, nach dem als Ziel eines möglichen ersten Atomschlags Hessen vorgesehen war. Das weit verbreitete Nicht-zur-Kenntnis-nehmen-Wollen hat mich fast ebenso erschreckt wie die Tatsache selbst.
    Voll stimme ich der Einschätzung zu (ich lese das aus Ihren Beiträgen heraus), dass es sich bei sehr pessimistischer Sicht auf die Gegenwart zum großen Teil um ein Wahrnehmungsproblem handelt, und dass dabei private und politische Ebene zu unterscheiden sind. Wobei es auf beiden Ebenen auch auf das eigene Verhalten ankommt und vor allem die private Ebene von den Kontakten zum eigenen Umfeld bestimmt ist.
    Beispiel:
    Ich lebe in einer französischen Kleinstadt. Anteil des Front National bei den Regionalwahlen: 40 % (früher eher kommunistisch.) Es ist davon auszugehen, dass mancher der Anhänger auch schon bei uns am Tisch saß. Nun sind unsere Aktivitäten mit Amnesty und als Flüchtlingshelfer bekannt. (Man kann dabei beeindruckendes Engagement kennen lernen.) Wir halten mit unserer Einschätzung auch nicht hinter dem Berg. Manchmal klingelt jemand (den wir gar nicht kennen) an der Tür, um seinen Repekt, z.B. für ein Statement bei einer Amnesty-Veranstaltung, auszudrücken. Es ist aber noch nie vorgekommen, dass jemand mit klarem Widerspruch oder mit FN-Parolen aufgewartet hätte. Schon klar, dass dabei auch Argumente nötig wären. Will heißen: Aggressive Reaktionen von anderen hängen auch davon ab, wie sehr man sich selbst davon beeindrucken lässt.
    Schwieriger freilich im politischen Bereich. Hier ist sicher eine Verschiebung ins Aggressive wie auch ins Pessimistische festzustellen. Was aber wohl auch mit der medialen Dominanz negativer Botschaften in der Internet-dominierten Informationsgesellschaft zu tun hat, welche die Wahrnehmung erheblich beeinflusst.
    Gegenbeispiel: Ich war als Kind mit Sicherheit den Auswirkungen der damals überirdischen Atombombentests ausgesetzt. Davon erfahren habe ich mehr als 20 Jahre später.
    Dennoch ist Wahrnehmungsveränderung in der Infomationsgesellschaft nicht ausschließlich negativ zu sehen. Von einer weltweiten Resonanz wie z.B. auf die Trumpschen Anti-Moslem-Aktionen hätte man noch in den 80er Jahren nur träumen können. Umso mehr, wenn der selbstherrlichen Überhebung eines US-Präsidenten über Recht und Gesetz, wie eben zu erfahren ist, richterliche Grenzen gesetzt werden.

    Dies auch als Antwort auf Jürgen Malysseks Frage nach der „kämpferischen Sicht“, die keineswegs nur zu einer „Kampfschrift“ gehört, sondern auch zu „Reflexion über die Zeichen der Zeit“. Z.B. dass ein Trump nicht Amerika ist und dass es Gegenkräfte gibt. So wie die AfD nicht Deutschland repräsentiert. Eine Reflexion, die auch nicht „unparteiisch“, scheinbar über den Dingen schwebend, daherkommen muss, was sich dann in Wahrheit als Anbiederung an Mächtige entlarvt. (Vgl. Nachbar-Thread: „Wer schweigt, wird zum Mittäter“, bezogen auf Kritik an Trump: „Akzepiert das Wahlergebnis endlich!“)
    Dies auch angesichts der Tatsache, dass gegenüber wachsender Aggressivität, vor allem im Internet, noch keine konsistente Gegenstrategie erkennbar ist.

  42. Lieber Herr Engelmann, ich habe weiß Gott nichts gegen Satire und schon mal gar nicht im Sinne Tucholskys. Nur habe ich die Satire nicht herauslesen können. Ansonsten geht es mir auch nicht um Prinzipienreiterei, aber meine Positionen sind hoffentlich erkennbar (hier als keine Satire).
    An maat: Es ist nicht einfach mit der Debatte, wenn die Wahrnehmung eines Textes so unterschiedlich ausfällt. Die „Reflexion über die Zeichen der Zeit“ kann sicher diesen kämpferischen Anteil haben, auch kann sie „parteiisch“ sein (parteiisch bin ich auch), dennoch ist der Essay von Decker anders angelegt, was kein Nachteil ist für eine Reflexion. Deshalb kommen die Aussagen von Decker noch lange nicht schwebend daher. Das Wesen eines Essays ist nicht unbedingt „kämpferisch“ – ein Versuch einer Annäherung an ein Thema, das einen Autoren jeweils persönlich, kulturell, gesellschaftlich beschäftigt. Das Buch von Didier Eribon („Rückkehr nach Reims“) ist beispielsweise ein solcher (soziologischer) Essay – wenn auch auch ein längerer und geht auch in die Richtung biographischer und politischer Erfahrungen, Reflexionen. Es geht nicht um „die schweigende Mittäterschaft“.
    Das Internet ist ein Kapitel für.

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