Jedes Kind stellt eine neue Herausforderung dar

Die Stadt Frankfurt ist angeblich überversorgt mit Ärzten, zum Beispiel Kinderärzten. Das behauptet der Vorstandsvorsitzende der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) Hessen, Frank Dastych. Er operiert auf der Basis von Planzahlen aus den 90er Jahren, scheint dabei aber Einiges außer Acht zu lassen, was Beate Seger-Fritz aus Frankfurt, eine Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin, zum Anlass nahm, einen langen Leserbrief zu schreiben. Eine um etwa 50 gekürzte Fassung erschien im Print-Leserforum der FR. Hier kommt die ungekürzte Version als Gastbeitrag im FR-Blog.

Jedes Kind stellt eine neue Herausforderung dar

Von Beate Seger-Fritz

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Die von Herrn Dastych genannten Zahlen mögen für sich stimmen, sie spiegeln aber in keiner Weise die Belastung eines Kinderarztes wider. Wer genau rechnet sieht, dass die Patientenzahl/ Arzt vor mehr als 25 Jahren festgelegt wurde. Seitdem hat sich vieles grundlegend verändert. Die Geburtenzahlen sind gestiegen und es sind immer mehr Menschen zugezogen. Die Zahl der zu versorgenden (Extrem-) Frühgeburten steigt, Kinder werden immer früher aus den Krankenhäusern in die ambulante Behandlung entlassen. Die Zahl der Hebammen entspricht überhaupt nicht dem Bedarf, so dass ich als Kinderärztin diese Versorgung sehr häufig übernehmen muss.

In Frankfurt wurden neue Stadtteile errichtet. Hier möchte ich den Riedberg exemplarisch nennen. Obwohl tausende Kinder in diesem Stadtteil aufwachsen, hat es keine positive Veränderung der Zahl der niedergelassenen Kinderärzte im Einzugsbereich gegeben. Als ich mich 2005 im Frankfurter Nordwesten niederließ, gab es keine Pflichtvorsorgeuntersuchungen. Heute müssen alle Kinder im Alter von etwa drei Monaten bis zum sechsten Geburtstag einmal jährlich eine Vorsorge durchlaufen. Die Inhalte der Untersuchungen wurden neu festgelegt und erheblich erweitert. Die Krankenkassen bieten die Kostenübernahme für weitere Vorsorgeuntersuchungen an, die von den Eltern gerne wahrgenommen werden. Sämtliche Vorsorgen sind zeitlich festgelegt, und nur in diesem Zeitraum übernehmen die Krankenkassen die Kosten, Für all diese Vorsorgen benötige ich im Schnitt etwa 30 Minuten, (wenn das Kind mitmacht), jeden Tag führe ich acht bis zehn solcher Vorsorgen durch, somit sind schon vier bis fünf Stunden meiner täglichen Arbeitszeit für diese Untersuchungen aufzubringen.

Neue Impfungen wurden implementiert, auch hier sind weitere Termine anzubieten. Zumindest in meiner Praxis sind heute deutlich mehr Frauen berufstätig, als noch vor 13 Jahren. Jede Erkrankung des Kindes macht eine Vorstellung erforderlich, weil die Eltern eine Bescheinigung für den Arbeitgeber benötigen, um das Kind zu Hause versorgen zu können. Ganz abgesehen von den vielen sozialpädiatrischen Aufwendungen, die zunehmend in meiner Praxis zu leisten sind und einen erheblichen Zeitfaktor darstellen. Dazu kommen noch viele andere Gründe, warum Kinder vorgestellt werden, und schließlich ist mein Auftrag, mich um die kranken Kinder zu kümmern und diese nach neuestem wissenschaftlichen Standard zu behandeln. Hierfür muss ich mehrfach im Jahr Fortbildungen im meiner sprechstundenfreien Zeit besuchen.Auch der kinderärztliche Notdienst (eingerichtet von der kassenärztlichen Vereinigung) ist von uns niedergelassenen Pädiatern durchzuführen, mit ca. vier Diensten pro Quartal.

Mir ist nicht verständlich, warum ein Kinderarzt 734 Patienten mehr versorgen muss, als ein Hausarzt, um als ausgelastet zu gelten. Auch wir versorgen viele chronisch schwer kranke Kinder. Die jungen Kinder sind nicht in der Lage, ihre Symptome zu benennen oder die Befindlichkeit darzustellen. Jedes Kind stellt eine neue Herausforderung in der Behandlung dar (man denke nur an Impfungen oder Blutentnahmen, aber auch schon einfache Untersuchungen können sich als sehr schwierig und zeitintensiv herausstellen). und zudem müssen wir stets die Eltern in die Behandlung einbeziehen, deren Bedürfnisse wahrnehmen und befriedigen. Der Kinderarzt ist der „Familienarzt“ schlechthin (was ich persönlich, mit der nötigen Zeit, als sehr erfüllend empfinde).

Hinzu kommen die täglich anfallenden Verwaltungsaufgaben (Anfragen der Krankenkassen und anderer das Kindeswohl betreffende Institutionen wie Krankenhäuser, Therapeuten, Jugend- und Sozial- Versorgungsämter, Gerichte, Fördereinrichtungen, Kassenabrechnung usw.), die ebenfalls eine nicht unerhebliche Zeit in Anspruch nehmen. Diese Aufzählung erfüllt nicht den Anspruch auf Vollständigkeit.

Ich kenne keinen Kinderarzt in Frankfurt, der Herrn Dastych zustimmen würde, nicht zu 100 % ausgelastet zu sein. Meine Angestellten führen täglich mehrfach Telefonate mit unglücklichen Eltern, die keinen Kinderarzt finden. Jeden Tag schlagen in der Praxis Eltern mit kranken Kindern als Notfall auf, die sonst kinderärztlich nicht versorgt sind. Ich muss mich täglich rechtfertigen, warum auch ich keine Neupatienten aufnehmen kann. Und das nicht erst in den letzten zwei Jahren!

Bereits 2013 hat der Gemeinsame Bundesausschuss festgestellt und der Gesetzgeber festgelegt, dass eine kinderärztliche Versorgung wohnortnah zu gewährleisten ist , dies ist in vielen Stadtteilen nicht der Fall. Einer Mutter, die mit ihren drei Kindern in der Nordweststadt lebt, nutzt es nichts, dass vielleicht in Frankfurt- Höchst die Arztdichte hoch ist, auch wenn Höchst rein sachlich und rechnerisch zum gleichen Versorgungsgebiet gehört und sie dort möglicherweise Aufnahme findet (was ich persönlich bezweifle). Ich finde es geradezu zynisch, wenn Herr Dastych von einem „Wunscharzt“ spricht, auf den ein Patient kein Anrecht habe. Seit vielen Jahren versuche ich regelmäßig, die KV davon zu überzeugen, dass ein weiterer Kinderarzt in meinem Einzugsgebiet erforderlich ist. Ich habe meine Überlastung mit nachweisbaren Zahlen mehrfach angezeigt (und die ergeben sich nicht aus „vielen“ Privatpatienten). All meine Versuche etwas zu verändern sind gescheitert, da die Kassenärztliche Vereinigung und der Zulassungsausschuss keinen Bedarf hierzu sieht.

Ich weiß von vielen Eltern, dass sie sich ebenfalls an die KV gewandt haben, um auf die Situation aufmerksam zu machen. Und wieso hat wohl der Sozialausschuss der Stadt Frankfurt Herrn Dastych zu diesem Thema eingeladen? Bestimmt nicht, weil Eltern in der Mittagspause gerne den Kinderarzt in Arbeitsnähe aufsuchen!

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